Vieles hat sich für mich deutlich verändert, seit ich im Frühjahr 2022 anfing, mich immer tiefer mit der Orthodoxie auseinander zu setzen. Damals begann ich mit meiner Doktorarbeit über die Glaubensentwicklung junger Erwachsener und Jugendlicher der zweiten und dritten Generation von Einwanderern aus der Südosttürkei, insbesondere aus der Region Tur Abdin, deren Familien heute in Deutschland leben.
Ich denke an mein Leben vor der Begegnung mit der Orthodoxie zurück. Damals hätte ich das meiste, worüber ich jetzt schreibe, entschieden abgelehnt. Hättest du mir irgendetwas davon erzählt, hätte ich gedacht, du hättest keine Ahnung und deine Bibel nicht studiert, wenn du mir diese täglichen orthodoxen Begegnungen als Wahrheit präsentiert hättest. Offensichtlich war dies weit entfernt von Sola Scriptura und einer schlichten und geradlinigen Auslegung der sechsundsechzig Bücher der Bibel, die ich bereitwillig akzeptierte.
Und dann kam die Orthodoxie und mit ihr eine völlig neue Welt des Lernens für mich. Meine vier Jahre im Seminar schienen nur kleine Startblöcke für die unvorstellbare Tiefe einer tatsächlichen Begegnung mit Gott zu sein. Plötzlich erfahre ich die wahre Gegenwart Christi, wenn ich die Kommunion nehme, wenn Brot und Wein zu seinem Leib und Blut werden und meinen Körper und meine Seele nähren. Da ist die Gegenwart der Heiligen, die vor uns gelebt haben, die ich spüren kann, wenn ich sie durch ihre Darstellungen auf Ikonen verehre, und deren Gegenwart ich spüre, wenn sie mit uns während dem Heiligen Qurobo, der Göttlichen Liturgie, beten – nur zwei Beispiele für den Reichtum der Orthodoxie, der mein bis dahin streng reglementiertes christliches Verständnis überflutete.
Orthodoxie ist nichts, was man sich plötzlich aneignet und dann statisch mit sich führt. Sie ist nicht wie das Sündergebet im Evangelikalismus. Vielmehr ist sie ein wahrhaft lebenslanger Prozess, Gott immer näher zu kommen. Sie ist eine tiefe und mystische Verbindung mit Ihm, die durch Seine Gnade ergründet werden soll, indem ich täglich in allen Bereichen meines Lebens mit Ihm Gemeinschaft habe. Und durch Seine grenzenlose Barmherzigkeit und Liebe lerne ich ständig dazu. Ich möchte aber auch hinzufügen, dass ich es nie allein tun möchte. Ich bin unendlich dankbar für das Geschenk meines geistlichen Vaters, der mich täglich lehrt, was es bedeutet, sich Christus zuzuwenden. Ebenso wichtig ist mir mein wunderbarer Freund, ein syrisch-orthodoxer Diakon, der mir jederzeit bei Fragen mit Rat und Tat zur Seite steht und mich auf die Schriften unserer Kirche hinweist. Möge Gott sie beide in diesem Leben und in der Ewigkeit mit Ihm reich segnen.
Hier ist eine weitere Lektion, die – ehrlich gesagt – für mich noch nicht abgeschlossen ist: die Bedeutung von Reliquien (und auch Heiligengräbern) im Leben orthodoxer Gläubiger. Warum denke ich heute Abend darüber nach? Im Juni hatte ich die große Ehre, zwei Klöster hier in Arizona zu besuchen. Das erste war das St. Anthony Monastery, ein griechisch-orthodoxes Kloster in Florence, Arizona. Das zweite war ein russisch-orthodoxes Frauenkloster, das St. Paisius Monastery, in Safford, Arizona. (Außerdem eine Notiz für mich selbst: Es ist möglicherweise eine gute Idee, diese wunderschönen Klöster außerhalb der heißesten Monate des Jahres zu besuchen, da für den Besuch ein langer Rock, Socken, geschlossene Schuhe, eine langärmelige, weite Bluse und ein um Kopf und Hals gewickeltes Tuch erforderlich sind. Siehe unten.)

In St. Anthony Monastery konnten wir mehrere wunderschöne Kirchen und Kapellen besichtigen. Eine der ersten war die St. Menas-Kapelle, benannt nach dem Märtyrer St. Menas. In ihr befindet sich das Grab des Gründers des St. Anthony's Klosters, Altvater Ephraim von Arizona. Als wir während unseres Besuchs an seinem Grab anhielten und um seinen Segen baten, war das der erste „Toto, ich habe das Gefühl, wir sind nicht mehr in Kansas“-Moment (für meine nicht-amerikanischen Freunde: Das ist eine Anspielung auf den Film „Der Zauberer von Oz“, was bedeutet, dass die Dinge ganz anders sind als früher, d. h. das ist kein Evangelikalismus). Während ich ein Foto machte, betete eine andere Frau am Grab die Psalmen. Um zu verstehen, warum Orthodoxe die Gebete derer suchen, die sie als Heilige während derer Leben betrachten (und Elder Ephraim scheint auf dem Weg zur Heiligsprechung in der griechisch-orthodoxen Kirche zu sein), ist es wichtig zu erkennen, dass diejenigen, die vor uns gegangen sind, nicht einfach als tot und verschwunden gelten, sondern als lebendig mit Christus. Der verstorbene koptisch-orthodoxe Patriarch, Seine Heiligkeit Papst Schenuda III., schrieb: „Die Fürsprache der Heiligen zu erbitten, bedeutet Glauben an das Leben nach dem Tod; Glauben daran, dass die Verstorbenen noch leben und ihre Aufgabe zu erfüllen haben; Glauben an die beständige Beziehung zwischen Himmel und Erde und Glauben an die Verehrung der Heiligen, die von Gott selbst verehrt werden.“1
Als wir dieses wunderschöne Kloster verlassen wollten, hielt mich die Dame im Buchladen an und sagte: „Wenn Sie noch zehn Minuten Zeit haben, die Mönche haben gerade die Reliquie des Heiligen Joseph des Hesychasten herausgebracht.“ Er war der geistige Vater von Altvater Ephraim. Der Heilige Joseph spielte eine entscheidende Rolle in der spirituellen Entwicklung des jungen Ephraim, als dieser Mönch auf dem Berg Athos war. Der Heilige Joseph starb 1959. Wir machten uns sofort auf den Weg zur St.-Antonius-Kirche, wo die Reliquie (der Schädel des Heiligen Josef) tatsächlich vor den Vespergebeten zur Verehrung aufgestellt worden war.



Altvater Ephraim hatte Folgendes über seinen geistlichen Vater gesagt:
Altvater Josef war ein spiritueller Gigant und ein von Gott gelehrter Lehrer des noetischen Gebets. Seine Liebe zu unserer lieben Panagia war unübertroffen. Ihr zuliebe ertrug er geduldig alles, und von ihr empfing er das große Charisma des Herzensgebets. Er wurde für würdig befunden, sie in seinem irdischen, aber engelhaften Leben oft zu sehen. Ach! Wo gibt es heute noch Menschen wie ihn, die euch himmlische Worte voller Gnade verkünden? Sein reines Herz sprach unaufhörlich das Gebet: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“, und der Heilige Geist ruhte auf seinem Haupt. … Ich glaube, dass der Älteste Josef höhere Ebenen erreichte als der heilige Siluan der Athos – viel höhere sogar. Heute gibt es keine Gestalten wie ihn mehr; er war der Letzte.2
Hätte man mir vor vier Jahren gesagt, ich würde einen Schädel küssen und um das Gebet des Heiligen Joseph bitten, hätte ich gelacht und ungläubig den Kopf geschüttelt. Außerdem hätte mich der Gedanke erschaudern lassen, da ich eine westliche Vorstellung von der Distanz zu toten Körpern übernommen hatte, die orthodoxen Christen jedenfalls völlig fremd ist. Was also änderte meine Meinung und ließ mich sowohl die Reliquie des Heiligen Joseph küssen als auch um sein Gebet vor Gott bitten? Die Lektüre unserer Kirchenväter und Autoren unserer Kirche sowie der Schriften Seiner Heiligkeit Papst Schenuda III. Hier ein Zitat aus dem 2. Jahrhundert über das Martyrium des Heiligen Polykarp im Jahr 156 n. Chr.: „Daher hoben wir seine Gebeine auf, da sie kostbarer waren als die erlesensten Juwelen und reiner als Gold … und legten sie an einen würdigen Ort … der Herr möge es uns gewähren …, um den Jahrestag seines Martyriums zu feiern …“3
Ambrosius von Mailand (340–397 n. Chr.) schrieb über ein Wunder nach der Entdeckung der Reliquien der Heiligen Gervasius und Protasius: „Gott war uns gnädig, denn selbst die Geistlichen fürchteten sich, als sie die Erde vor dem Chorvorhang der Heiligen Felix und Nabor wegräumen sollten. Ich fand die passenden Zeichen, und als ich einige herbeibrachte, denen die Hände aufgelegt werden sollten, wurde die Macht der heiligen Märtyrer so offenbar, dass, während ich noch schwieg, einer ergriffen und an der heiligen Grabstätte niedergeworfen wurde. Wir fanden zwei Männer von erstaunlicher Statur, wie jene aus alten Zeiten. Alle Gebeine waren unversehrt, und es floss viel Blut. Während dieser zwei Tage herrschte ein großer Andrang. Kurz ordneten wir alles, und als es Abend wurde, brachten wir die Reliquien in die Fausta-Basilika, wo Nachtwache gehalten wurde und einige die Handauflegung empfingen. Am nächsten Tag überführten wir die Reliquien in die Ambrosianische Basilika. Während der Überführung wurde ein Blinder geheilt.“4
Augustinus von Hippo (354–430 n. Chr.) schrieb: „Denn auch jetzt geschehen Wunder im Namen Christi, sei es durch seine Sakramente, sei es durch die Gebete oder Reliquien seiner Heiligen…“5
Dies sind nur einige Beispiele dafür, was die Kirche über die Jahrhunderte hinweg weitergegeben hat. Aber keine Sorge, liebe evangelikalen Leser. Ich habe mir die Heilige Schrift für den Schluss aufgehoben. Ja, es ist biblisch, Reliquien Wunder zuzuschreiben. „Als man einmal einen Toten begrub und eine dieser Scharen erblickte, warf man den Toten in das Grab Elischas und floh. Sobald aber der Tote die Gebeine Elischas berührte, wurde er wieder lebendig und richtete sich auf.“ – 2. Könige 13,21
Und es geht nicht nur um Gebeine. In Apostelgeschichte 19,11-12 lesen wir: „Auch ungewöhnliche Machttaten tat Gott durch die Hand des Paulus. Sogar seine Schweißbinden und Tücher, die er auf der Haut getragen hatte, nahm man weg und legte sie den Kranken auf; da wichen die Krankheiten und die bösen Geister fuhren aus.“
Wie mein geistlicher Vater gerne sagt: Man kann die Heiligen, die mit Christus leben, ignorieren oder ihre Gebete annehmen. Die Entscheidung liegt ganz bei dir. Aber warum sollte ich nicht die Gebete derer wollen, die Christus so viel näher stehen als ich, solange ich noch hier auf Erden bin? Letztendlich ist es immer Gottes Werk, und Ihm gebührt alles Lob und alle Ehre. Mögen Seine Heiligen bei Ihm für uns Fürsprache einlegen. Mögest du über das Beispiel unserer Heiligen nachdenken und davon gesegnet werden.
Hier ein paar weitere Fotos vom St.-Antonius-Kloster und dem St.-Paisius-Kloster.









Und Leben in St. Paisius für diese müde Pilgerin.






Und zum Schluss noch ein paar Reliquien, die ich in den letzten Jahren verehren durfte.






Siehe auch https://st-takla.org/books/en/pope-shenouda-iii/comparative-theology/asking-saints.html - die deutschen Bücher sind im Moment leider nicht verfügbar.
Übersetzt aus My Elder Joseph the Hesychast by Elder Ephraim, pp. 668-669
Übersetzt aus Martyrdom of Polycarp, ch. 18 §2–3
Übersetzt aus Ambrose, Letter 22. https://www.newadvent.org/fathers/340922.htm
Übersetzt aus City of God, Book XXII, ch. 8